Die Neunte als Kammersymphonie
Mahlers letztes vollendetes Werk, Höhepunkt und Endpunkt aller spätromantischen Musik, „a Symphony to end all symphonies“ in einer Fassung für 17 Instrumentalisten – ist das sinnvoll oder eine Strafaktion? Eigentlich hätte es Mahler, selbst ein rücksichtsloser Retuscheur, der u. a. die Schumann-Symphonien aufs Grauslichste verschlimmbesserte, durchaus verdient, dass auch seine Werke mal einer Reduktion unterzogen werden. Die Dritte ohne das kindische Bimbam des fünften Satzes, die Achte ohne den Veni creator spiritus-Chor, dazu kräftige Striche in der 2. und 7. Symphonie, all dies wäre wünschenswert, unterbleibt aber aus übertriebener Ehrfurcht. Was bei Rachmaninow gang und gäbe ist, hält man bei Mahler für ein Sakrileg, obwohl die von ihm geschaffenen Strukturen keineswegs schlüssiger und konziser sind als die des melancholischen Russen.
Ausgerechnet die Neunte aber auf Kammerniveau einzudampfen, das erfordert schon eine gehörige Portion Chuzpe. An der Instrumentation gibt es nichts zu verbessern; Mahler selbst hat das Werk zwar nicht mehr hören und daher auch nicht mehr überarbeiten können, aber der untrügliche Klangsinn des erfahrenen Dirigenten machte eine solche Revision auch überflüssig. Die Neunte wird seit hundert Jahren fast überall so gespielt, wie Mahler sie notierte. Andererseits beriefen sich Schönberg, Berg und Webern gerade auf den späten Mahler, als sie sich von den pompös überfrachteten Partituren der Gründerzeit abkehrten und ruhigere Gefilde anstrebten. Und zwar vollkommen zu recht. Das Andante comodo der Neunten könnte mit seinem irrlichternden Horn über fast unhörbaren Celli kaum zerbrechlicher, kammermusikalischer beginnen, und der Satz endet auch verlöschend, fern aller orchestralen Triumphe. Ähnlich filigran ist die Handschrift im Finale geraten.
Der Gedanke, das gesamte Stück auf diese Mini-Besetzung zurückzufahren, liegt nahe, zumal dabei die berüchtigte polyphone Feinstruktur deutlicher ins Ohr fällt. Der Bearbeiter Klaus Simon will gerade diese intimen Seiten Mahlers erfahrbar machen, in den akustischen Vordergrund rücken. Und das funktioniert im Grunde auch nur mit der dicht strukturierten 9. Symphonie – seine anderen, schwächeren Werke sind für solche Experimente ungeeignet, wie die unerträglichen vierhändigen Klavierfassungen beweisen. Mahler hatte schon in jungen Jahren alle kammermusikalischen Bemühungen eingestellt; er brauchte zweifelhafte Texte, brauchte plakative Gesten, fette Effekte und solche Instrumente wie Kuhglocken, Mandoline und Holzhammer. Erst in der Neunten konnte er sich von diesem ganzen Firlefanz befreien.
- Volker Tarnow
Mahler: 9. Symphonie im Kammerfassung
ensemble mini, Joolz Gale (Leitung)
27. April 2014, 20 Uhr Radialsystem V
www.radialsystem.de
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